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Denkt man diese Faktoren zusammen, dann gibt es zwei große soziale Aufgaben in Thüringen: Ansiedlung und Besiedlung, Ansiedlung Externer und Besiedlung des weiten Landes auf der Basis jener Infrastruktur, die eingangs beschrieben wurde. Daraus entwickelt sich ein ganzes Bündel von Themen.
Eine Schlüsselrolle können – wie uns das Silicon-Valley gelehrt hat – die Universitäten spielen. Sie ziehen junge Leute – Studierende und Lehrende – aus Deutschland, Europa und der Welt an, sofern sie große Attraktivität und einen exzellenten Ruf besitzen. Dabei kommt dem Wohnen ein zentrale Rolle zu. Das Wohnen der Studierenden und Lehrenden ist der erste grundlegende Schritt, der zweite ist, den Absolventen durch ein von Innovation und Kreativität geprägtes Milieu Berufs- und Karrierechancen am Universitätsort, in Thüringen, in den Unternehmen zu eröffnen (Carreer Services, Gründung von Start-Ups etc.) verbunden mit einem guten Wohnungsangebot. Projekte wie „neuland21“ beispielsweise in Brandenburg, zeigen, dass solche Entwicklung nicht auf die großen Städte beschränkt bleiben muss, sondern regelrecht verbunden werden kann mit der revitalisierenden Besiedlung des weiten Landes – Digital Communities, Start-Ups in Dörfern, zunächst wohl unweit der Metropolen.
Die Wohnsituation von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Thüringen ist vielfach prekär und bedarf einer genaueren Analyse. Auch hier ist der Weg aktiver Ansiedlung von Fachkräften im Sinne der Integration geboten und er wird ja auch beschritten. Man darf hier durchaus an historische Vorbilder denken wie etwa die Ansiedlung von Hugenotten und Holländern durch den Preußenkönig Friedrich II. und eine entsprechende Wohn-und Arbeitsarchitektur, z. B. das „Holländerviertel“ im Zentrum von Potsdam – ein Stück Heimat für die Neusiedler im Gewand der Architektur. So spezifisch dies war, so modellhaft könnte es sein, bei Vermeidung jedweder Ghettoisierung Zuwanderern eigene Lebens- und Wohnmöglichkeiten zu eröffnen.
Vernetzes digitales Arbeiten macht physisches Pendeln zunehmend überflüssig. Man wird also den großen Charme von Thüringen als Wohnort, ergänzt um seine zentrale Lage in Europa, nutzen und zugleich global arbeiten können. Die Wahl des Wohnortes wird also territorial weitgehend unabhängig vom Arbeitsort, wenn hier überhaupt noch von einem „Arbeitsort“ gesprochen werden kann, denn auch dieser ist dann in vielen Sektoren nur noch ein Knoten im Netz. Hier kommen sie wieder ins Spiel: der digital vernetzte Landsitz, digital vernetztes Büro, Home-Office, Labor, Werkstatt, Atelier, Co-Working-Space auf dem Land usw.
Und dann könnte es sein, dass gerade der scheinbare Nachteil des Ländlichen sich als entscheidender Vorteil erweist, mit der Lebensqualität, der Nähe zur Natur, auch der Gesundheit des Wohnens. Diese hygienischen Faktoren des Wohnens (Licht, Luft, Sonne, Bewegung) hatte schon die klassische Moderne in den Mittelpunkt ihrer Wohn- und Siedlungskonzepte gestellt, z. B. Siegfried Giedion in seiner Programmschrift „Befreites Wohnen“ (1929). War das hygienische und gesunde Wohnen für die Avantgarde der Architektur seinerzeit ein herausragendes Ziel, so stellen wir fest, dass das Motiv des gesunden Wohnens heute wieder hoch aktuell ist. Die Corona-Krise gibt diesem Motiv einen weiteren Schub.