Essays zum Wohnen
Über das Wohnen in dezentralen Räumen
Ein Essay in 8 Kapiteln

Wohnen

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Wohnen ist immer existentiell, Grundlage des Lebens und Anfang der Architektur. Wohnen als Behausung ist ein ­Grundbedürfnis und muss daher in einem sozialen Sinn für jede*n erschwinglich und möglich sein, nicht jedoch nach dem Maß des bloßen Existenzminimums, sondern in angemessener Lebensqualität und einem kreativen Milieu, nicht jedoch auch nach den Bildern eines falsch verstandenen Luxus der übermäßigen Anhäufung von Gütern, Fläche und Raum. Obdachlosigkeit, Wohnungsmangel, Unbezahlbarkeit der Wohnung müssen überwunden werden. Wohnen ist die soziale Aufgabe unserer Zeit, in den ­Metropolen ebenso wie in der Kleinstadt und auf dem Land.

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Das Wohnen braucht essentiell ein ausgewogenes Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Der Rückzug in das Private und Intime muss ebenso möglich sein, wie das Leben in der Community.

Das gilt zunächst für das Geviert der Wohnung selbst, wo jede*r Bewohner*in auch einen Eigenraum haben muss. Die Corona-Krise macht gerade diese Notwendigkeit überdeutlich. Kinder im Home-Schooling brauchen ihren Platz ebenso wie Eltern im Home-Office. Da diese Praxis sich auch nach der Krise bis zu einem gewissen Grad fortsetzen wird, brauchen wir eine Transformation von Wohnungszuschnitten, in welchen sich dann erfolgreich ein neues und produktives Verhältnis von Arbeiten und Wohnen etablieren lässt.

Die Notwendigkeit einer Balance zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft gilt natürlich ebenso für das Quartier und die Stadt im Ganzen. Nach der Auflösung der agrarisch geprägten Großfamilie haben sich im Zuge der industriellen Revolution mit den Wohnformen die Lebensformen und die Formate der sozialen Kommunikation grundlegend gewandelt, und eben nicht nur in der Stadt, sondern genauso auf dem Land. Das Ergebnis ist die Kleinfamilie und auch sie ist als Praxis partiell in Auflösung begriffen. Die Bevölkerungszahl sinkt, die Zahl der Haushalte steigt. Mit der wachsenden Individualisierung und Mobilisierung aber entwickeln sich zugleich – quasi als Kompensation – neue Gemeinschaften, neue soziale Formen des Zusammenlebens und des Zusammenwohnens. WGs für Studierende, WGs für Senioren, Wohngemeinschaften, durchaus offene, auch temporäre Strukturen mit bemerkenswerter sozialer Durchlässigkeit. Aber auch Bauherrengemeinschaften, Wohngruppen etc.

Dabei ist die unmittelbare Nachbarschaft und Gemeinschaft eine der Möglichkeiten, wobei die Kommunikations- und sozialen Verkehrsformen im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung grundlegenden Umbrüchen unterliegen. Netzcommunities, neue Umgangsweisen und Mobilitäten erzeugen Formate, die mit den tradierten, analogen Umgangs- und Begegnungsweisen nicht mehr vergleichbar sind. Treffpunkt kann spontan via Facebook (oder anderen) der Quartiershof sein, aber auch die Tankstelle, das Ferienhaus, die Demo. Die aktuelle Corona-Krise hat die neuen Optionen der Netzkommunikation (Video Conferencing, Home-Office) ebenso plastisch gemacht, wie die Verlusterfahrungen beim Ausfall der unmittelbaren personalen Kommunikation, dass also etwa die Kinder nicht unmittelbar miteinander spielen, es sei denn per Chat im Netz.

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Wohnen heute ist mobil. Das Wohnen heute ist weitgehend gelöst von den einstigen Konditionen der ruralen Gesellschaft, für die der Kosmos des Dorfes in hohem Maße auch die Grenze der (Groß-) Familie und der Welt war, die Stadt ein selten oder von einigen auch nie erreichter Ort. Wohnen heute heißt sehr oft Pendeln und ist untrennbar verbunden mit den infrastrukturellen Systemen der ­Mobilität. Dies gilt für die Großstadt ebenso wie für ein Flächenland wie Thüringen. Das Pendeln zur Arbeit, auch grenzüberschreitend, kann lange Wege nach sich ziehen. Gleiches gilt ­natürlich für das Phänomen des Wohnungswechsels, des Umziehens, das vor allem aufgrund fluktuierender Arbeitsverhältnisse mehr und mehr symptomatisch ist. Wohnen ist in der globalisierten Moderne ein transitorisches Phänomen. Wir sehen das Ende der Sesshaftigkeit, was möglicherweise nicht heißt, dass die Sehnsucht danach verschwindet. Auch eine Gegenbewegung gegen Exzesse der Mobilität ist denkbar, wie die Erfahrung der allerdings völlig unfreiwilligen Mobilitätsbeschränkung infolge der Corona-Krise nahelegt. Zugleich aber entwickeln sich die Vehikel der Mobilität zu Quasi-Wohnungen. Das Automobil hat Teppiche, Polster, ist zugleich Konzertsaal und wird im SUV zur fahrenden Burg, gesteigert im Wohnmobil, in dem man auch dauerhaft leben kann.

Wohnen heute ist zudem in vermutlich steigendem Maße temporäres Wohnen. Dies gilt für den Aufenthalt im Hotel, für die Zweitwohnung am Arbeitsplatz, der nicht beim Wohnsitz liegt, es gilt für die Ferien und das Reisen. Es gilt aber auch im Zusammenhang mit der Migration, d. h. Arbeitsmigranten oder Flüchtlingen, die sich entweder in Lagern aufhalten, unter prekären Verhältnissen wohnen oder eben ohne klare Aufenthalts-, Arbeits- und damit Wohnperspektiven sind. Und: ­Obdachlosigkeit ist ein Status, den es zu überwinden gilt.

Für Thüringen als „Flächenland“ ist die gelingende Mobilität die grundlegende Voraussetzung der Entwicklung, die Voraussetzung der Erreichbarkeit aller Orte und damit die elementare Voraussetzung aller ­Ansiedlung von Bewohnern und Firmen bzw. ­Entwicklung. Nicht zufällig sind die Trassen der ­Mobilität, Autobahnen, ICE-Strecken auch bisher die Entwicklungskorridore des Landes. Es braucht ein Augenmerk auf die verästelte Mobilität jenseits dieser Hauptlinien.

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Wohnen ist Kommunikation. Und die Wohnung ist ihr erstes Werkzeug. Sie ist Statussymbol, ein System von Zeichen, eine innere Matrix von Intimität, Privatheit, Halb­öffentlichkeit und auch Öffentlichkeit, ein tiefenpsychologisch besetztes räumliches Gefüge. Mit dem Einbruch der Medien gewinnt das Wohnen schließlich eine völlig neue Dimension. Es beginnt mit der „Gutenberg-Galaxis“, welche das Wohnen vereinnahmt, dem Buch, dem Leseplatz und dem Bücherregal, das schließlich zum eigentlichen Signet von Bildung avanciert, gelegentlich lustvoll ausgestellt wird, bis hin zum Fake bloßer leerer Buchrücken. Es setzt sich fort mit der Erfindung des Radios, das mit dem „Volksempfänger“ die Wohnung der Massen erreichte, gefolgt vom Fernsehen, das als „Lagerfeuer“ der Familie eine weitere Umgruppierung der Wohnung nach sich zog. Diese wiederum beginnt sich nun im Zeichen der digitalen Medien aufzulösen. Die Wohnung und natürlich jedweder Raum wird heute – über ­Internet und WLAN – Teil eines globalen Raumes, der Zugang dazu mittels der mobilen Devices, sei es des Mobiltelefons, des Notebooks oder des Tablets, quasi ortlos, ortlos auch ­innerhalb der Wohnung, so dass auch dort überall und individuell die Allgegenwart der Welt wirkt. Die Grenzen zwischen dem Medium der Wohnung und dem World Wide Web verschwimmen. Instagram macht das ­Private publik. Wir wohnen in der Cloud. Im „Smart Home“ beginnen die Dinge, sich digital selbst zu organisieren. Die digitalen Medien revolutionieren zugleich die Arbeitswelt und stiften damit auch ein neues Verhältnis von Arbeiten, ­Lernen und Wohnen, etwa – wie bereits mehrfach ­festgestellt – in der Form des Home-Office oder des Homeschooling, deren Zukunftsfähigkeit, aber auch deren Konsequenzen die Corona-Krise plastisch vor Augen führte.

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Wohnen ist ontologisch und phänomenologisch die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins. Wohnen ist daher immer auch eine Suche nach Identifikation und Identität. Die Wohnung, das Dorf, die Stadt, die Landschaft sind die Spiegel dieser personalen oder auch kollektiven Identifikation. Die Dinge werden persönlich, die Personen hängen an den Dingen. Distinktionen, die Artikulation von Life-Styles, sozialem Status verbinden sich unmittelbar mit dem Wohnen. Dies geschieht per Wahl des Wohnorts, der Lage und des Typus der Wohnung, sowie deren Architektur. Solche Wohnmodelle und Images sind in der Regel hochgradig massenmedial geprägt, durch den Film, durch Journale, durch Beispiele. Und diese sind heute global. So kommt es, dass etwa in den Einfamilienhausquartieren der Nach-Wende-Zeit das „Norweger­haus“ nicht nur neben dem „Schwedenhaus“ steht, was zumindest eine geografische Affinität beweist, sondern von einer toskanischen Villa flankiert wird – Spiegel des globalen Tourismus in der Geschmackswelt des Bauens. Natürlich sind diese modellhaften Images des Hauses und der Wohnung zu oft nicht nur große Verführer, sondern auch große Irreführer. Das Schloss oder die Hollywood-Villa taugen eben nur bedingt als architektonisches Modell des Einfamilienhauses auf einer 400 m2-Parzelle. Wie überhaupt das Klischee des Einfamilienhauses, das ja von solchen Aspirationen und Identifikationen, von Traumhaus-Bildern gespeist wird, angesichts seiner ökologischen Untauglichkeit grundsätzlich hinterfragt werden muss.

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Thüringen ist schön. Und das Wohnen in Thüringen ist inspiriert von der Kulturlandschaft, in deren Begriff Natur und Kultur zusammentreten. Es sind diese Bilder und Identitätskonstrukte vom „grünen Herzen“ Deutschlands, die Gesänge von den Höhen des Rennsteigs, vom hellen Strand der Saale, das Ineinander von Landschaft und Architektur, wie es in stolzen Burgen und über den Städten thronenden Schlössern sich ebenso artikuliert wie in kleinen Dörfern mit Fachwerkhäusern, die sich topografisch in die Landschaft einbetten. Es ist diese Aura der vorindustriellen Strukturen, die einen nicht geringen Teil des Images von Thüringen prägen und die Frage steht, ob nicht gerade diese Charaktere, herausgebildet noch vor den Gewalten des Industriezeitalters, auch die Grundlage sein können einer post-industriellen Zukunftsvision – auch des Wohnens und seiner Qualitäten. Aus dieser Perspektive würden die Begriffe der Heimat und der Schönheit ernst genommen, weil befreit von ihrer kitschigen, spießbürgerlichen und traditionalistischen Daseinsfigur. Das „Zurück zur Natur“ würde als Programm auf vollkommen moderne Weise eingelöst werden müssen, und – so jedenfalls unsere These – nicht als Maschinenstürmerei, sondern als Entwicklung einer ökologischen Hochtechnologie.

Digitale und ökologische Revolution

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Die digitale Kultur und der ökologische Umbau müssen als die Grundlinien der kommenden Epoche begriffen und entsprechend gestaltet werden. Diese Bewegungen sind auch die Maßgabe für Thüringen, das nicht nur zu diesen Entwicklungen beitragen muss, sondern in bestimmter Hinsicht auch zu einem Modellfall dieses digital-ökologischen Umbaus entwickelt werden sollte, in der Wirtschaft, in der Gesellschaft, in der Kultur, wie eben auch in der Kultur des Bauens.

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Dabei weist das ökologische Denken in die gleiche Richtung wie die Entwicklung des Digitalen. Einerseits senken die digitalen Technologien generell den Ressourcenverbrauch, wiederum deutlich zu sehen in der Corona-Wirklichkeit. Luftfahrt wird ersetzt durch Video Conferencing. Der CO2-Ausstoß sinkt. Andererseits erfüllt sich ökologisches Agieren vielfach als dezentrale Praxis. Und genau dafür stellen digitale Techniken die Werkzeuge bereit. Das Digitale ist die zentrale Infrastruktur einer dezentralen Praxis, z. B. bei der Steuerung durch GPS oder der Steuerung jener Energien, die dezentral gewonnen werden (Photovoltaik, Windräder, Wasserkraft). In der Wohnung etwa steuern wir die Heizung vom Urlaubsort im Winter.

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Thüringen ist eben berühmt für seine Natur, die dem Land das Label vom „grünen Herzen Deutschlands“ eingebracht hat. Allein darin schon steckt ein herausragendes ökologisches Argument. Thüringen ist auch berühmt für die Tradition des Partikularismus, welche die vielen kulturell überaus hochstehenden Residenzorte geschaffen hat. Man arbeitet gerade an einem Weltkulturerbe-Antrag für diese einmalige Residenzkultur Thüringens. Das heißt, dass die Dezentralität hier vorgeprägt ist. Beides, die Verklammerung von Stadt / Dorf und Natur und die Verteiltheit und Kleinteiligkeit der Siedlungsstruktur ist vor dem Hintergrund der urbanen Konzentrationsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts als rückständig und überholt denunziert worden. Dies aber wird sich mit dem Fortschritt der Digitalisierung und dem ökologischen Imperativ grundlegend ändern. Die Dezentralität und das Einzigartige stehen der Modernisierung jetzt prinzipiell nicht mehr entgegen, im Gegenteil kann das digitale Milieu das Zukunftswerkzeug der Behandlung, ja der Respektierung des Dezentralen und Einzigartigen sein. Diese Ortlosigkeit ist zugleich die Allgegenwart des Digitalen und sie ist ja im Typus aller mobilen Kommunikationstechnik evident. Für diese neue Qualität, die eine herausragende Einheit von Digitalem und Ökologischem hervorbringen kann, könnte Thüringen stehen. Und genau aus diesem Zusammenhang sind die eigentlichen Werte des zukünftigen Wohnens, aber auch des Arbeitens zu begreifen.

Dezentrale Urbanität

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Man kann durchaus an Berlin denken, die Metropole, die 1920 durch die Eingemeindung zahlreicher Dörfer zum Territorium „Groß-Berlin“ avancierte, wobei die Ursprungsfigur der Dörfer und sie umgebenden Natur bis heute erkennbar geblieben ist. Berlin hat auf 892 km2 3,8 Mio. Einwohner, Thüringen hat auf 16.000 km2 2,1 Mio. Einwohner. Der Unterschied ist eindeutig und dennoch kann der Vergleich für Thüringen das Bild einer dezentralen Urbanität nahelegen. Mit der Vision einer entsprechenden Infrastruktur entsteht hier das Bild einer grünen ­Metropole auf (sehr) großer Fläche. Dies wiederum kommt jenem Siedlungsmodell nahe, das Frank Lloyd Wright, der eigentlich unbestritten bedeutendste amerikanische Architekt, 1932 entwarf: die Broadacre City, beschrieben in seinem Buch „The Disappearing City“, also die „verschwindende Stadt“. Wrights Vision war, wie auch die anderer „Gartenstadt“-Pioniere, die Antithese zu jener Vorstellung der kompakten modernen Stadt, wie sie etwa der Architekt Le Corbusier entwickelt hatte. Bei Wright wird die Stadt als dezentral organisierte, unbegrenzte suburbane Landschaft vorgestellt. Die Stadt fließt in die Landschaft, die Landschaft in die Stadt. Schon Wright sieht, dass diese Entgrenzung möglich wird durch die Technologiesprünge der Moderne, also die Telekommunikation und das Automobil. Er geht also davon aus, dass die Kategorie der räumlichen Distanz dadurch nahezu bedeutungslos wird. Und er will, dass jeder und jedem Siedlungswilligen ein Stück Land (ca. 4.000 m2) gegeben wird, das diese*r sich komplett individuell zu eigen machen kann. Dies wiederum ist für Wright der Garant einer selbstbestimmten Lebensweise und Gemeinschaftsbildung und damit der eigentliche Schritt zur Demokratie.

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Der Vergleich mit Berlin kann uns zumindest zeigen, dass die Vorstellung eines Gegensatzes oder einer Kontraposition von Stadt und Land, von urbanem Raum und ländlichem Raum längst überholt ist, wenn sie überhaupt jemals gegolten hat. Vielmehr durchdringen sich jetzt bereits die Qualitäten. Städte sind Naturräume (denken wir an die Parks und Schrebergärten) und das Land ist hoch industrialisiert. Wrights Vision der Broadacre City ist natürlich geprägt von der amerikanischen Perspektive eines weiten, quasi endlosen und vorgeblich frei verfügbaren Kontinents. Hinzu kommt die noch uneingeschränkte Euphorie für das Automobil, von dem der Franzose Roland Barthes einmal gesagt hat, es sei die „Kathedrale der Neuzeit“. Weder also ist die amerikanische Perspektive mit der Thüringischen identisch, denn hier gibt es eine lange gewachsene Siedlungslandschaft, noch werden wir die Euphorie des Automobils voraussetzungslos in die Zukunft projizieren. Aber das Strukturbild einer Versöhnung von Landschaft und Siedlung, dem Wright nachspürte, dieses wie auch die technologischen Substrate dieses Bildes in der digitalen Welt sollten die Grundlage unserer Zukunftsvision sein. Unübersehbar im Konzept von Wright ist denn auch der Gedanke der Selbstversorgung auf eigenem Land, wobei hier zu diskutieren sein wird, inwiefern wir es da auch mit einer Romantisierung des Ruralen, der „Scholle“ usw. zu tun hätten und was tatsächlich mit regionalen und lokalen Wirtschaftskreisläufen besser zu machen ist.

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Programmatisch also ginge es in Thüringen darum, den Komfort der kompakten Stadt – die Dichte der Sozietät nämlich – auf neue Weise ins Land zu tragen, und umgekehrt den Komfort des weiten Landes – die Dichte der Natur also – innovativ in die Stadt zu tragen. Zugleich erkennen wir, dass beide, sowohl das Land als auch die Stadt, im Zuge der digital-ökologischen Revolution einen grundlegenden Strukturwandel erfahren, und zwar einen Strukturwandel der Infrastruktur.

Neue Infrastruktur

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Die digitale Infrastruktur und zugehörige digitale Praxis setzt sich mit Macht durch. Sie ist der Schlüssel des Strukturwandels. Und sie verbindet sich mit der zweiten machtvollen Bewegung, dem ökologischen Umbau. Apple und Tesla sind gerade jene Weltunternehmen, die – besonderes unter dem Eindruck der Corona-Krise – die Zukunftsfantasien bündeln: Digitale Kommunikation und ­Elektromobilität. Dazu eben auch eine ihrer traumhaften Kombinationen: das autonome Fahren.

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Es entwickeln sich komplett neue Infrastrukturen. Das weite Land etwa kann mit dieser Infrastruktur neu gedacht werden. Der Schub für digitales Arbeiten macht das Land unter der Voraussetzung leistungsfähiger Netze attraktiv für die Ansiedlung von Firmen, insbesondere Unternehmen, die ohnehin netzaffin arbeiten, digitale Communities, die sich neu in oder bei kleinen Städten und in Dörfern ansiedeln und dann zugleich den Komfort der Natur und des größeren Raumangebotes z. B. für das Wohnen von Familien nutzen können. Dies dürfte eine der wichtigsten Entwicklungslinien auch in Thüringen werden, zunächst vermutlich vor allem im Umland der größeren Städte.

Auch auf individueller Ebene wird das Home-Office (digitales Arbeiten zu Hause) viel stärker praktiziert werden. Dies macht das Arbeiten weiter ortsunabhängig und damit das Wohnen auf dem Lande interessanter.

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Das autonome Fahren enthält die Perspektive auf gänzlich andere Modalitäten der Mobilität. In einem Mobilitätsverbund zwischen den Verkehrsträgern der Schiene und der Automobilität wird es möglich sein, effizient auf elektrisches oder wasserstoffbasiertes Car-Sharing zu setzen und zugleich die Überdominanz des individuellen Autos zu beenden. Autonome Vehikel (Taxis ohne Fahrer quasi) können bedarfsgerecht zu jedem Ort des Landes gerufen und jederzeit optimal bewegt werden. Es ist klar, dass bei Durchsetzung dieses Modells eine Flexibilität erreicht wird, die individuelle Mobilität jenseits der starren Systeme von Bahn und Bus ermöglicht und zugleich die Zahl der Automobile drastisch reduziert, mit allen positiven Folgen des Freiwerdens von Stellplätzen, der Verringerung des Ausstoßes von Schadstoffen und des Verbrauchs jedweder Art von Ressourcen. So wird die Stadt entlastet und das Land erreichbar.

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Die Logistik der Güterverteilung unterliegt einem dramatischen Wandel, der die Strukturen der ländlichen Region ebenso verändert wie die der Städte. Der Wandel ist sichtbar. Neue Verteilzentren prägen den Landschaftsraum und machen kleinste Ortschaften zu Knotenpunkten der digitalen Logistik. Dies gilt gerade auch für Thüringen, das ja mit dem Kreuz der Autobahnen A4 und A71 sowie dem Erfurter Knoten der europaweiten ICE-Linien zu einem Transitland par excellence geworden ist. Die wirtschaftlichen Effekte dieser Vernetzung sind enorm und werden weiter an Bedeutung gewinnen. Es entstehen, wie bei Arnstadt, nicht nur neue Unternehmensansiedlungen, sondern auch neue Wohnareale im Umfeld dieser Strukturen.

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Die Konsumwelten der Städte und damit einer ihrer wesentlichen Bildungsfaktoren müssen sich mit der neuen Online-­Logistik wandeln. Amazon, entstanden aus einem kleinen digitalen Buchhändler, ist aktuell der herausragende Tech-Konzern dieser Entwicklung. Ladenstraßen und Shopping-Center in der Stadt dürften ihre Funktion als Güterverteilzentren mehr und mehr verlieren, was im übrigen Lagerkapazitäten in den Städten überflüssig macht und Transportwege im Ganzen optimiert. Die alte Stadt wird zum Show-Room, allerdings immer in der Konkurrenz zum Netz, das die Ware nicht nur naturalistischer inszeniert, sondern ­global vergleichbar vorführt. Die Pandemie lässt auch diesen eigentlich schon lange sichtbaren Umbruch der internetbasierten Verteillogistik erbarmungslos sichtbar werden. Es lässt sich vorstellen, dass die Entwicklung von Smart Homes in Verbindung mit exakten Delivery-Chains dazuführt, dass Bestell-und Liefervorgänge bei Bedarf auch komplett automatisiert werden können (im Sinne des Beispiels vom Kühlschrank, der die Butter bestellt). Auch die Steuerung der Hausfunktionen kann komplett über das Netz erfolgen. Gedanken darüber, wie dies Lebensstile und Wohnweisen verändern wird, kann man weit spinnen. Sicher aber ist, dass die neue ­Lieferlogistik einen völlig ­identischen Zugang hat zum Land wie zur Stadt. Die ­Daseinsvorsorge – auch auf dem Land – erhält damit eine neue und zukunftsfähige Basis.

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In das Paket der neuen ­Infrastruktur gehören fundamental die alternativen Energien, jene also, die das fossile Zeitalter ­ablösen und damit den CO2-Ausstoß und den Klimawandel begrenzen. Die generelle Einführung der Elektromobilität (auch wasserstoffbasierte Mobilität und andere entsprechende Technologien) ergibt klimatechnisch nur dann Sinn, wenn der dafür verwendete Strom aus erneuerbaren Energiequellen kommt. Wind- und Sonnenstrom, ergänzt um andere Quellen wie Wasser, Erdwärme u.ä. bedürfen daher der nachdrücklichsten Entwicklung und Förderung. Dazu gehört eine klare Strategie des Umgangs mit den Konfliktpotentialen, die sich auch zum Wohnen auftun, also die Entfernung von Windrädern zu Siedlungen, die in Thüringen gerade diskutierte Frage, ob Windräder auch im Wald, also bei Preisgabe von Bäumen, aufgestellt werden dürfen, ob Windräder eine „Verschandelung“ der Landschaft sind oder nicht usw. Sowohl Windräder wie auch Photovoltaik-Anlagen sind dezentrale Energie­gewinner und passen daher ideal zum Modell einer dezentralen Urbanität, das hier vorgestellt wird. Darin liegt ein weiterer, enormer Vorteil der alternativen energetischen Infrastruktur. Auch Bio-Energie gehört in dieses Portfolio, Holzschnitzel wie auch Grünmasse. Es wird zu prüfen sein, wie diese Komponenten mit einer ökologischen Landwirtschaft (die nicht schlicht identisch sein muss mit dem, was heute unter dem Begriff geführt wird) vereinbart werden können.

Wohnungen und Wohnformen

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Die demografischen und ­soziologischen Grundlagen des Wohnens zeigen markante Tendenzen, auch in Thüringen. Die Zahl der Einwohner in Thüringen ist seit 1990 ­insgesamt deutlich zurückgegangen und es wird angenommen, dass sich diese Tendenz fortsetzt. Strukturell zeigen sich jedoch gegenläufige Tendenzen. Während Städte in logistisch ungünstigen Lagen und wirtschaftlich stagnierenden Regionen bis zu einem Drittel ihrer Einwohner verloren haben, boomt die Städtekette an der A4, also Jena, Weimar, Erfurt, alle sind Universitätsstädte. Zugleich zeigt sich eine zunehmende Überalterung der Bevölkerung, was zu steigenden Bedarfen an betreutem Wohnen sowie Pflegeeinrichtungen führt. Der traditionelle Familienverband löst sich weiter auf. Man hat zunehmend Single-Haushalte, was den Bedarf nach kleineren Wohnungen stärkt (Zuwachs in den 2020ern ca. 10 %). Dennoch wächst in ­Deutschland, auch in Thüringen, die Wohnfläche pro Kopf der Bevölkerung weiterhin stetig.

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Der Nach-Wende-Strukturwandel zeigt drei Hauptlinien: erstens, die angestrebt vollständige Sanierung der Altstädte und des Wohnungsbestandes, zweitens den starken Rückbau der DDR-Großsiedlungen im Gefolge des zunehmenden Leerstandes und damit zusammenhängend drittens der Bau neuer Einfamilienhausquartiere in den Städten und bei den Dörfern im Umland der Städte. Ein Fluchtreflex aus dem kollektiven Wohnen in der „Platte“, der zu einem sozialen Niedergang dieser Quartiere und zu einer anwachsenden sozialen Segregation führt. Ausnahmen betätigen hier die Regel. Und wir sehen das Sehnsuchtsbild des eigenen Hauses auf eigenem Grund als Einfamilienhaus oder Doppelhaushälfte, ein Sehnsuchtsbild, das als monotones Wohnmodell droht und im Laufe der Generationen schnell zur Falle werden kann.

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Die hier sich spiegelnden Konflikte halten an. So sehen wir einen auf den ersten Blick eklatanten Widerspruch. Einem weithin sichtbaren Leerstand von Wohnungen, selbst in sanierten Beständen, steht andererseits ein Mangel an neuen Wohnungen gegenüber. Der Bedarf besteht in den Boom-Städten, Jena, Weimar, Erfurt, während der Leerstand in den wirtschaftsschwachen und häufig ländlichen Regionen grassiert. Dort betrifft es primär die alten Kernbereiche der kleinen Städte und der Dörfer, zumal wenn die Straßenräume zu reinen Verkehrskanälen degradiert sind. Es käme also darauf an, die Möglichkeiten modernen und erschwinglichen Wohnens in diesen alten (und oft auch schönen) Siedlungskernen zu zeigen und durch ein neues Modell der Infrastrukturen die Lebensfähigkeit dieser Orte zu sichern bzw. wiederherzustellen. Dies aber wird auch nur dann funktionieren, wenn mit einer neuen Infrastruktur für ein Modell dezentraler Urbanität den momentan schwachen Regionen eine wirtschaftliche Renaissance möglich wird. Die Beziehung von Arbeiten und Wohnen und von Stadt und Land muss und kann in der Digitalen Kultur neu justiert werden.

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Ein sehr altes Wohnmodell ist jene Dopplung, ein Stadthaus/Stadtwohnung mit einem Landhaus/Landwohnung zu kombinieren, beispielsweise in aristokratischer Form, wie die toskanische Villa oder Palladios Villen im Veneto, und in dem proletarischen Pendant in Ergänzung der Wohnung mit dem Schrebergarten oder der „Datsche“, komfortabler dann im Ferienhaus. Es wäre auch die Winterwohnung in der Stadt, kombiniert mit der Sommerwohnung auf dem Land denkbar. Auch dieses Pendeln könnte in einem Zukunftsmodell dezentraler Urbanität neu formuliert werden und zu einer Renaissance des weiten Landes beitragen. Die Steigerung dieses Strukturbildes ist dann der moderne Tourismus, der für Thüringen sowohl in der Form des Städtetourismus als auch als „grüner“ Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig und ebenso ein wesentlicher Faktor der Kultur und der Architektur ist.

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„Hach, das könnte schön sein, ein Häuschen mit Garten, in dem wir dann abends uns’re Rosen begießen…“, so sangen einst in den 50er Jahren die Räuber in der Filmkomödie „Das Wirtshaus im Spessart“ und gaben dem Wunsch von Millionen Ausdruck, ein eigenes Haus zu besitzen. Diese Sogwirkung des „Einfamilienhauses“, auch ein ideologisches Konstrukt der Eigentumsbildung in der alten Bundesrepublik, hatte einen Schub nach dem Ende der DDR, ist bis heute ungebrochen und legt aktuell noch zu, angesichts der sozialen Separierung, zu der die Corona-Krise zwingt.

Aber dieses Klischee des Einfamilienhauses, wie es uns die Neusiedlungen seit 1990 am Rande alter Dörfer in Thüringen oder auch im Areal der Städte vorführen, ist nicht zukunftsfähig. Die Bedürfnisse, die es scheinbar auffängt, könnten legitim sein und wichtig: soziale Sicherheit, frische Luft, ein Garten, den man vielleicht auch bearbeiten kann. Dagegen steht, dass das „Einfamilienhaus“ das am meisten flächenfressende ­Siedlungsmodell ist und ist insofern ökologisch abzulehnen. Demgegenüber steht die offenbare Monotonie der reinen „Schlafsiedlung“, des nur Wohnens, in dieser Hinsicht nicht sehr verschieden von der „Platte“, zumal der Zwang zum Sparen eine drangvolle Enge jener Häuser erzeugt, die nur zu oft mit der gewollten Ästhetik eines Schlosses oder Forsthauses kollidiert, denen nämlich der Park und der Wald fehlen. Dagegen steht, dass der Siedlungstyp Wandel familiärer Beziehungen zur Falle werden kann, wenn die Alten mit dem dann zu großen Haus alleine bleiben, usw.

Jedoch es gibt sie, die Alternativen eines verdichteten Wohnens, das den Bedürfnissen nach sozialer Sicherheit, frischer Luft und dem Wohnen im Grünen entspricht, ohne Boden extensiv zu versiegeln, ohne soziale Vereinsamung zu riskieren, ohne das Scheitern der Traumhaus-Illusion. Einer der wichtigsten Schritte muss sein, die alten Siedlungskerne wieder für das Bewohnen attraktiv zu machen, also auch den modernisierenden Umbau der alten Strukturen und das neue Bauen im alten Kontext zu leisten. Ein weiterer Schritt muss sein, die Verbindung von Wohnen und Arbeiten neu zu denken und daraus neue Typologien zu entwickeln. Angeknüpft werden kann dabei ja modellhaft an das Reihenhaus, das Mehrfamilienhaus, vielleicht sogar an vergessene Typologien wie etwa die „Teppichsiedlung“ der 1960er Jahre. In Thüringen gibt es Vorreiter, z. B. das „Neue Bauen am Horn“ in Weimar, ein Modellprojekt, das zwar in die richtige Richtung weist und zugleich sozial exklusiv ist.

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Die soziale Frage

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Der Autor Gerhard Matzig schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 15.04.2021, dass die akuten Wohnungsprobleme mittlerweile nicht nur Metropolen betreffen, sondern auch Mittel- und Kleinstädte, und dass nicht nur die Einkommensschwachen betroffen sind, die es schon immer schwer hatten, sondern auch die Mittelschicht. „Die Nöte, die das Wohnen auslöst, werden zum Massenproblem. Spätestens jetzt sollte man aufwachen im Innenministerium. Das Wohnen ist die soziale Frage der Gegenwart.“

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Wie bereits eingangs festgestellt, ist Wohnen existentiell, die Verfügbarkeit der Behausung eigentlich ein Grundrecht. Wohnung muss also verfügbar, angemessen und leistbar sein. Nach dem lange zu wenig Wohnungen gebaut worden waren, zog der Wohnungsbau seit etwa 2010 deutlich an, auch in Thüringen, allerdings mit deutlich regionalem Fokus auf Entwicklungskerne des Landes und die Städte Jena, Erfurt und Weimar. In den Mieten spiegelt sich ein analoges Bild. Während die Mieten im Mittel als moderat gelten können (nach dem 2. Thüringer Wohnungsmarktbericht 2018 im Schnitt in Thüringen ca. 5,50 € / m2), steigen sie in diesen Boom-Städten bis auf das Doppelte.

Das Segment der „Sozialwohnungen“, also der Anteil an geförderten Wohnungen, welche Mieter mit einem Wohnberechtigungsschein erhalten können, ist bundesweit zurückgegangen, auch in Thüringen, laut 2. Thüringer Wohnungsmarktbericht 2018 seit 2008 um 57 %. Der Hauptgrund für diesen deutlichen Rückgang ist, dass weniger neue Wohnungen mit Sozialbindung gebaut worden sind. Man wird grundsätzlich sagen müssen, dass dieser Trend umgekehrt werden muss. In den großen Metropolen Hamburg, Düsseldorf, München sind entsprechende Modelle umgesetzt worden, die für Wohnungsbauvorhaben jetzt einen entsprechenden Anteil an Sozialbindungen bzw. Mietpreisbindungen erzwingen. Und da ist nicht die Rede vom Berliner Mietendeckel. In Thüringen, angesichts durchschnittlich moderater Mieten in der Fläche, ist der Bedarf an Sozialwohnungen stark abhängig von regionalen Nachfragestrukturen und Einkommensverhältnissen. In Thüringen geben Mieter rund 24 % ihres Einkommens für die Wohnungsmiete aus, ein im Bundesdurchschnitt „äußerst niedriger Wert“, wie der Wohnungsmarktbericht konstatiert. Dennoch dürfte die „Sozialwohnung“ als erschwingliche Wohnung für niedrige Einkommen und in bestimmten Regionen Thüringens eine zwingende Notwendigkeit sein.

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Die Bevölkerungsprognose für Thüringen ist eindeutig. „Im Jahr 2017 lebten 2,151 Mio. Menschen in Thüringen. Diese Zahl wird sich laut CIMA-Bevölkerungsprognose bis zum Jahr 2030 um 9,8 % auf 1,94 Mio. Einwohner reduzieren“ (2. Thüringer Wohnungsmarktbericht 2018). Die Bevölkerung schrumpft weiter, die Überalterung nimmt weiter zu, und nicht linear, sondern anwachsend in den 2020er Jahren. Will man dies stoppen oder umkehren, dann gibt es nur einen Weg, nämlich eine aktive Politik der Ansiedlung. Und Ansiedlung verlangt attraktive Arbeits- und Wohnbedingungen und deren Verbindung. Es geht um Wanderungsgewinne für Thüringen. Aber nur die Städte Erfurt, Jena und Weimar können gemäß Prognose mit größeren Wanderungsgewinnen rechnen, also mit mehr Zuzug als Abwanderung.

Kontext zu diesem Abschnitt

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Denkt man diese Faktoren zusammen, dann gibt es zwei große soziale Aufgaben in Thüringen: Ansiedlung und Besiedlung, Ansiedlung Externer und Besiedlung des weiten Landes auf der Basis jener Infrastruktur, die eingangs beschrieben wurde. Daraus entwickelt sich ein ganzes Bündel von Themen.

Eine Schlüsselrolle können – wie uns das Silicon-Valley gelehrt hat – die Universitäten spielen. Sie ziehen junge Leute – Studierende und Lehrende – aus Deutschland, Europa und der Welt an, sofern sie große Attraktivität und einen exzellenten Ruf besitzen. Dabei kommt dem Wohnen ein zentrale Rolle zu. Das Wohnen der Studierenden und Lehrenden ist der erste grundlegende Schritt, der zweite ist, den Absolventen durch ein von Innovation und Kreativität geprägtes Milieu Berufs- und Karrierechancen am Universitätsort, in Thüringen, in den Unternehmen zu eröffnen (Carreer ­Services, Gründung von Start-Ups etc.) verbunden mit einem guten Wohnungsangebot. Projekte wie „neuland21“ beispielsweise in Brandenburg, zeigen, dass solche Entwicklung nicht auf die großen Städte beschränkt bleiben muss, sondern regelrecht verbunden werden kann mit der revitalisierenden Besiedlung des weiten Landes – Digital Communities, Start-Ups in Dörfern, zunächst wohl unweit der Metropolen.

Die Wohnsituation von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Thüringen ist vielfach prekär und bedarf einer genaueren Analyse. Auch hier ist der Weg aktiver Ansiedlung von Fachkräften im Sinne der Integration geboten und er wird ja auch beschritten. Man darf hier durchaus an historische Vorbilder denken wie etwa die Ansiedlung von Hugenotten und Holländern durch den Preußenkönig Friedrich II. und eine entsprechende Wohn-und Arbeitsarchitektur, z. B. das „Holländerviertel“ im Zentrum von Potsdam – ein Stück Heimat für die Neusiedler im Gewand der Architektur. So spezifisch dies war, so modellhaft könnte es sein, bei Vermeidung jedweder Ghettoisierung Zuwanderern eigene Lebens- und Wohnmöglichkeiten zu eröffnen.

Vernetzes digitales Arbeiten macht physisches Pendeln zunehmend überflüssig. Man wird also den großen Charme von Thüringen als Wohnort, ergänzt um seine zentrale Lage in Europa, nutzen und zugleich global arbeiten können. Die Wahl des Wohnortes wird also territorial weitgehend unabhängig vom Arbeitsort, wenn hier überhaupt noch von einem „Arbeitsort“ gesprochen werden kann, denn auch dieser ist dann in vielen Sektoren nur noch ein Knoten im Netz. Hier kommen sie wieder ins Spiel: der digital vernetzte Landsitz, digital vernetztes Büro, Home-Office, Labor, Werkstatt, ­Atelier, Co-Working-Space auf dem Land usw.

Und dann könnte es sein, dass gerade der scheinbare Nachteil des Ländlichen sich als entscheidender Vorteil erweist, mit der Lebensqualität, der Nähe zur Natur, auch der Gesundheit des Wohnens. Diese hygienischen Faktoren des Wohnens (Licht, Luft, Sonne, Bewegung) hatte schon die klassische Moderne in den Mittelpunkt ihrer Wohn- und Siedlungskonzepte gestellt, z. B. Siegfried Giedion in seiner Programmschrift „Befreites Wohnen“ (1929). War das hygienische und gesunde Wohnen für die Avantgarde der Architektur seinerzeit ein herausragendes Ziel, so stellen wir fest, dass das Motiv des gesunden Wohnens heute wieder hoch aktuell ist. Die Corona-Krise gibt diesem Motiv einen weiteren Schub.

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An die Stelle der traditionellen Großfamilie treten, auch als Antwort auf ein soziales Auseinanderfallen der Gesellschaft, neue Formen der Gemeinschaft, auch neue Formen der Wohngemeinschaft. Das Zusammenwohnen gewinnt neue Bedeutungen, als „Studierenden-WG“, als „Rentner*innen-WG“, als Bauherrengemeinschaft, in der Form nachbarlicher Hilfe, in der Form gemeinsamer Feiern, Straßenfeste, in der Form von Inklusion usw. Hier bilden sich neue Communities, oft temporär. Zu denken ist auch an das Schicksal der Eckkneipe oder des Dorfgasthofes. Das Format der Gemeinschaft dürfte zudem ausschlaggebend werden für das, was wir nun wiederholt die Neubesiedlung des Landes nennen können. Das sind Interessengemeinschaften oder Gemeinschaften Gleichgesinnter, die das Land auf neue Weise in der Lage sind zu kolonisieren, also z. B. Digital Communities, die auf der Grundlage digitaler Netze arbeiten können, Designer, Künstler, Software-Firmen, Öko-Bauern u.a. Hier kann angeknüpft werden an die Tradition der Kooperativen oder der Künstlerkolonie, sei es der Monte Verità oder Worpswede.

Neue Standards

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Die Konsequenz aus der Lage des Wohnens ist, jene Bedingungen zu schaffen, die einen kostengünstigen und somit erschwinglichen Wohnungsbau, sei es der sanierte Altbau oder der Neubau, möglich machen. Dies muss ein Schwerpunkt der Entwicklung sein und verlangt die Infragestellung gegebener und die Entwicklung neuer Standards des Bauens, vor allem auch im Wohnungsbau.

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Die Formulierung neuer Standards zielt einerseits auf die Überprüfung gegenwärtig als Standard begriffener Vorschriften und Regeln, vor allem aber darauf, neue Qualitäten des Wohnens (die übrigens auch ganz alte sein könnten) zu bestimmen und Wohnungsbauprogramme darauf zu gründen. Dabei geht es um die Qualität der Räume, einen Fokus auf Einfachheit und Sparsamkeit, auf Klimaschutz und Ökologie u. a. Faktoren. Es geht um ein modernes zukunftsfähiges Wohnmilieu für diverse Bedürfnisse und Funktionalitäten.

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Zu den Standards des Wohnens gehört die basale soziale Infrastruktur, insbesondere die Kinderbetreuung, die Schule und Einrichtungen für Sport und Freizeit. Schon immer, sei es in den britischen New-Towns der Nachkriegszeit oder im „Sozialistischen Wohnkomplex“ ist ein Paket sozialer Grundleistungen mit dem Wohnen verbunden worden, also Kita, Schule, eine Art Gemeindezentrum, Shopping Centers usw. Eine der wichtigsten Aufgaben, gerade auch für Thüringen, ist, diese soziale Infrastruktur als Bedingung der „Daseinsfürsorge“ im „ländlichen Raum“, also unter Bedingungen hoher Dezentralität zu gewährleisten. Auch hier gilt, dass die Netze der modernen Mobilität und des digitalen Raumes der Schlüssel zur Bewältigung dieser Aufgaben sind. Wir sehen dies z. B. in Schweden, wo Container und ein entsprechendes Verteilsystem das digitale Einkaufen an entlegenen Orten ermöglichen. Telemedizin, vielleicht auch neue Wege der Schule zwischen Home-Schooling und Präsenz und andere neue Praktiken sind hier zu denken.

Wohnbau

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Durchschnittlich 8 % der Wohnungen in Thüringen stehen leer, wobei sich dieser Leerstand auf wirtschaftlich nicht prosperierende und/oder ländliche Regionen konzentriert. Zudem wird angesichts des prognostizierten weiteren Rückgangs der Bevölkerung auch ein weiter steigender Überhang an Wohnungen (ca. 40.000 in 2030) angenommen. Diese Größe entspricht etwa dem vermuteten Bedarf an neuen Wohnungen bis 2030. Rein rechnerisch würde es also keinerlei Wohnungsneubaus bedürfen, sondern nur der Behebung des Leerstandes durch die neuerliche Nutzung der leerstehenden Wohnungen, gegebenenfalls deren Umbau und Modernisierung. Diese Rechnung funktioniert jedoch angesichts der in den Regionen Thüringens stark divergierenden Entwicklungsdynamiken und der demographischen Entwicklung so nicht. Grob gesagt, stehen mittelfristig die Wohnungen dort leer, wo sie nicht gebraucht werden, und fehlen dort, wo sie gebraucht werden.

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Die wichtigste und am meisten nachhaltige ökologische Strategie ist der Weitergebrauch des Vorhandenen, also die Verwendung und Modernisierung des Bestandes. Die Maxime muss also lauten, die alten Städte, kleinen Städte und Dörfer weiter zu nutzen und zu beleben. Dies wird, wie gezeigt, nur erfolgreich sein im Kontext einer neuen, digitalen Infrastruktur, die dem weiten Land und den scheinbar (gemäß der alten Infrastruktur) abgelegenen Städten neue wirtschaftliche Impulse verleihen kann. Digitalisierung und Ökologie sind auch hier untrennbar. Zudem wird es wesentlich sein, Wohnbaumodelle zu formulieren, die neue Wohnqualitäten in alten Siedlungskernen demonstrieren und damit ein neues Image des Wohnens in diesen Ortslagen stiften.

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Gebrauch des Vorgefundenen ist auch Basis des Recycling. Das Bauen muss komplett von daher gedacht werden, also Wiederverwendung und Aufbereitung der abgebrochenen Materialien, keine Vermüllung. Diese Wiederverwendung von alten Bauteilen ist nicht nur eine uralte Praxis, sie ist nicht nur ein Gebot der Sparsamkeit, sie kann auch einen symbolischen Mehrwert mit sich führen, wie etwa der Spolienkult von einst zeigt. Somit ist das Recycling nicht notwendig ein „Downgrading“ der Stoffe, sondern kann als „Upcycling“, als Veredelung der Architektur, auch der Wohnarchitektur begriffen werden.

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Ökologisch sinnvolles Bauen muss grundsätzlich regenerativ sein. Regenerativ müssen die eingesetzten Energien sein und regenerativ müssen die eingesetzten Stoffe sein, insbesondere geht es um das Ende des fossilen Zeitalters. Damit wird der Endlichkeit der Ressourcen Rechnung getragen und der zwingenden Begegnung des Klimawandels. In besonderer Weise regenerativ sind nachwachsende Rohstoffe. Und im Bauen ist das – unter den Bedingungen einer nachhaltigen, nicht Raubbau betreibenden Forstwirtschaft – vor allem das Holz.

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Holzbau hat in Thüringen, dem „grünen Herzen Deutschlands“ mit seinem Waldreichtum eine große Tradition, ablesbar an den alten Fachwerkstädten, aber auch an Exemplaren modernen Holzbaus wie etwa dem Neufert-Haus in Weimar-Gelmeroda, auch ein Wohnhaus (1929). Thüringen benötigt eine Offensive im Holzbau und kann sich dabei auch an Vorbildern orientieren, etwa der skandinavischen Architektur oder auch der österreichischen Region Vorarlberg, der es gelungen ist, den Holzbau in einer avancierten Architektur zu einem höchst positiven und beispielhaften Imageträger der Region zu machen. Da der Wohnbau der Zukunft sparsam, kostengünstig und erschwinglich sein muss, muss auch der zukünftige Holzbau von diesen Leitlinien geprägt sein. Es geht also um rationellen und industriellen Holzbau. Dieser aber kann nicht simpel vereinheitlichend sein, sondern muss auf die individuellen Bedürfnisse sowie die Bedingungen des Ortes und der Landschaft zugeschnitten sein. Nach dem industriellen Modus der seriellen Massenproduktion scheint es einen unlösbaren Widerspruch zu geben zwischen Rationalität und Individualität. Es schien so, dass das Individuelle dem Handwerk angehört, das Massenhafte, das Kollektive der Industrie. Digitale Technologien überwinden genau diesen Ausschluss, denn nun werden Unikate möglich auf der Basis einer hoch rationellen, digital gesteuerten Produktion. Dies bedeutet die Möglichkeit eines Paradigmenwechsels im Bauen. Und gerade der gegenwärtige Holzbau ist ein prominentes Feld des Austestens dieser Möglichkeiten digitaler Planung und digitaler Produktion. Wiederum zeigen sich Ökologie und Digitalität als untrennbare Schwestern. Und das Plädoyer für Thüringen muss heißen, dass der Holzbau vorangetrieben werden muss, und zwar auf der Basis digitaler Planung und Produktion, also hoch rationell und hoch individuell, das heißt reagierend auf die jeweils einmaligen Bedingungen. Die Technologie des Holzbaus hat sich weltweit etabliert und die Fragen der Statik, des Brandschutzes, der Bauphysik so weit geklärt, dass heute auch Hochhäuser aus Holz gebaut werden. Auch Thüringen hat seine Bauordnung in diesem Sinne novelliert. Holzarchitektur ist auch ein positiver Faktor der Atmosphäre und des Milieus, gerade des Wohnmilieus. Das Holz, nicht unbedingt geschnitzt und nicht unbedingt rustikal, vermittelt auch ästhetisch jene positiven Qualitäten der Naturnähe, die ihm eigen sind.

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Wenngleich dem Holz im Wohnbau der Vorzug gegeben werden muss, als CO2-Speicher, nachwachsendem Rohstoff, regionalem Rohstoff und traditionell verankert, so schließt dies andere Stoffe nicht aus, z. B. andere Natur- und Faserstoffe, natürlich auch weiterhin Beton, Ziegel, Keramik usw. Die Fertigung dieser Stoffe wird zunehmend mit alternativen Energien betrieben werden und sie wird zunehmend digital basierten Technologien folgen, etwa im 3D-Druck auch großer Strukturen.

Architektur

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Architektur ist als bio-psycho-sozialer Organisator der Lebensvorgänge die älteste Kulturtechnik. Sie ist es, die als Medium und Ausdrucksträger Spiegel unserer Identitäten und Sehnsüchte ist, das gesellschaftliche Medium par excellence. Und die Architektur beginnt mit dem Wohnen. Die „Urhütte“, Beginn der Architektur, war auch das erste Wohnhaus. In der Wohnung, im Haus, in der Nachbarschaft organisieren sich die sozialen Beziehungen, artikulieren sich Lebensstile, ästhetische Vorstellungen, ja auch Moden, Verrücktheiten, Spleens, das gesamte Inventar der Lebensäußerungen. Das heißt, alles Wohnen ist zugleich lebenspraktische Organisation, Ausdruck, Zeichen und Botschaft. Alles Wohnen ist Ausdruck einer Kultur und muss als solche begriffen werden.

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Architektur ist nicht Dekoration. Sie ist nicht der Luxus, den man sich auch sparen kann. Sie ist mit ihren Räumen und Formen vielmehr jene mächtige Kraft, die das Ganze, auch das Ganze des Wohnens in die Kultur einschreibt, in die „Hochkultur“ ebenso, wie in die Alltagskultur. Es geht um die Notwendigkeit der Architektur. Und es geht um Gestaltung. Im Wohnen ist das ganz praktisch. Wer auf Wohnungssuche ist oder ein Haus bauen will, der sucht ein Milieu, sucht eine Atmosphäre, sei es die einer idyllischen Landschaft oder die einer urbanen Szene, sei es die eines „bürgerlichen“ Wohnens oder die einer schrillen WG. Auch die Ausstaffierung der Wohnung und des Hauses ist ebenso kognitiv vernunftgesteuert wie emotional geleitet. Das ganze Ambiente ist – meist ganz unbewusst – Signet des Sozialstatus, markiert die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, vielleicht nur das Streben danach, oder die Affinität zu einer bestimmten „Kultur“, vielleicht auch Sub-Kultur.

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Und da spielen Vorbilder, Muster, Idole, das was man schon mal gesehen hat – und was einem gefallen hat – eine besondere Rolle. Auch jene Architektur, welche über die Medien transportiert, ja lanciert wird, wird schnell zum Idol des Wohnens und des Traumhauses – das Schloss im Historienfilm, die Südstaatenvilla des Ölbarons, das hypermoderne Penthouse. Und oft gibt es hier den Kurzschluss, dass diese Bilder der Schönheit und des Reichtums – der Kronleuchter, das Blattgold – zu fehlgeleiteten Idolen werden und in der kleinen Wohnung und dem kleinen Haus sich zum Grotesken wandeln. Das Schloss für alle ist kein Modell. Die soziale Aufgabe des Wohnens kann nicht gelöst werden durch die einfache Sozialisation des Exklusiven.

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Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe verstand Architektur als „raumgefassten Zeitwillen“ und bestand damit auf der Modernität des Architektonischen. Dem schließen wir uns vollkommen an, jedoch eben gerade nicht als Wiederbelebung des Modernismus des 20. Jahrhunderts, sondern derart, dass eine moderne Architektur jetzt aus den Konditionen des ökologisch-digitalen Zeitalters gewonnen werden muss. Dazu gehört das Bekenntnis zur modernsten Technologie, zur Individualität von Ort und Region. Diese Affinität zur Region, also eben auch zu Thüringen, sollte sich jedoch keinesfalls als Replik des Traditionalismus ereignen, der sich zwangsläufig in Dekoration und Applikation erschöpfen muss. Unsere Regionalität sollte also z. B. nicht darin bestehen, mittelalterliches Fachwerk nachzuahmen, vielleicht aber darin, vom Grundsatz her zu denken und modernsten Holzbau zu entwickeln. Und dieser kann dann auch als Übersetzung des traditionellen Fachwerks in eine moderne Gestaltung verstanden werden. Das Wiener Büro Delugan Meissl hat 2020 einen Hochhaus-Wettbewerb für Erfurt mit einem Entwurf für modernsten Holzbau gewonnen, inspiriert vom mittelalterlichen Fachwerk der Krämerbrücke, jedoch nicht als deren Imitation.

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Die Etablierung einer neuen Baukultur verlangt die Etablierung neuer, anderer und besserer Ideen, Modelle, verlangt Kreativität, den Diskurs über Architektur und das Vorführen, das Propagieren, das Zeigen der anderen und vielleicht besseren Modelle des Wohnens und des Wohnbaus. Der Architekturwettbewerb muss daher zur Bedingung allen Wohnbaus werden, die Architekturausstellung und die Architekturkritik müssen Lebenselement einer wohlverstandenen Wohnarchitektur sein.

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